Ehe, Triebe, Emanzipation, Geschlechter-Rollenverteilung und freie Liebe waren im Naturalismus vor über hundert Jahren heftig diskutierte Themen. Wie sehr sie noch heute unter den Nägeln brennen können, hat Anke Bußmann jetzt mit einer klugen und unaufdringlich modernisierten Inszenierung von Gerhart Hauptmanns Drama »Einsame Menschen« an der Reutlinger Tonne bewiesen.Darin beansprucht ein Intellektueller für seine geistigen Belange die ständige Nähe einer gebildeten Freundin, während für die häuslichen Dinge und für das Stillen seines Stammhalters die Ehefrau zuständig bleibt. Dass bei solch einer Menage à trois zwangsläufig mindestens einer auf der Strecke bleibt, ist auch hier unausweichlich. In einer Mischung aus Verzweiflung und Trotz über das Scheitern seines angestrebten höheren Zustands von Beziehung nimmt sich der Mann am Schluss das Leben. Die von Simone Manthey entworfene Bühne in der Planie 22 ist beidseitig von Zuschauertribühnen begrenzt und bietet den Darstellern in einer offenen Spielfläche mit einer Tischtennisplatte, die zum Esstisch wird, wenigen Sitzmöbeln und moderner Musikanlage viel Raum zum Ausleben ihrer emotionalen Befindlichkeiten. Schablonen-Blumenmuster (ein Zuschauer definierte sie als »Prilblumen«) kleben an Wänden und Fußboden und verströmen dezent Landhausatmosphäre. Eine Art Dieter-Krieg-Bild mit dem Schriftzug »SEE« verweist auf den Berliner Müggelsee draußen vor der Tür, auf dem der Hausherr mit seiner Freundin gerne in traulichen Bootstouren Gedankenaustausch betreibt. Die Aufführung beginnt mit dem Tauffest für klein Philipp, dessen Geplärr immer wieder nervend in die gute Stube dringt. Das Elternglück von Käthe und Johannes Vockerat hält sich sichtlich in Grenzen, zumal die junge Mutter noch stark unter Geburtsnachwehen leidet und ihr Gummi-Sitzring zunächst das auffälligste Requisit ist. Ein anderes ist ein mechanischer Hoppel-Plüschhase, den Vockerats Freund Braun als Präsent für das Baby mitbringt.Über den von Charles Lemming leichtfüßig gespielten Künstler Braun kommt dann auch die mit ihm befreundete russische Studentin Anna Mahr ins Haus, an die sich der nach geistiger Erfüllung lechzende Hausherr verlieren wird. Zu Besuch sind auch die frischgebackenen Großeltern, wobei vom Opa nur die Stimme zu hören ist, während mit Martha Vockerat in Gestalt von Kathrin Becker eine Person mit bezwingender Bühnenpräsenz agiert und agitiert. Allein diese großartige frühere LTT-Schauspielerin zu erleben, lohnt den Besuch dieser Aufführung! Bigott ist sie in Anke Bußmanns Lesart nur am Rande, dafür aber eine prinzipienfeste Dame aus besseren Kreisen mit dem entsprechenden Dünkel. Und das ist mitunter ungeheuer komisch, wie überhaupt alle Figuren im Gefälle zwischen dem, was sie sagen und dem, was sie eigentlich wollen, unwillkürlich lächerlich wirken. Und zugleich gelingt das Kunststück, auch ihre Tragik spürbar zu machen. Die große Qualität der Inszenierung liegt in der präzisen Menschendarstellung durch die zu Höchstform auflaufenden Darsteller. SEELISCHE NOT Yvonne Lachmann bringt die seelische Not der ins zweite Glied zurückgesetzten Ehefrau packend körperlich zum Ausdruck. Wie eine Pflanze verdorrt sie unter ihren schmalen Schultern angesichts ihres aufblühenden Gatten, der mit Anna endlich jemanden gefunden hat, der sich für seine philosophische Arbeit interessiert. Die sich wie selbstverständlich in die Familie einnistende Anna wird von Galina Freund als leicht sinistre und erotisch höchst attraktive Individualistin gespielt, die ihren scharfen Verstand und ihre Eloquenz lustvoll einsetzt. Unverständlich ist nur, warum sie mit so trashigen Sexy-Klamotten verunstaltet wird. Den übrigen Mitwirkenden hat Kostümbildnerin Christine Haller bei weitem geschmackvollere Sachen verpasst. Eric van der Zwaag hat als Johannes Vockerat eine gewaltige und äußerst heikle Rolle auszufüllen und bewältigt dies mit Bravour. »Ihr wollt uns banalisieren«, schreit er die an, die seine Verbindung zu Anna als Affäre betrachten. Er glaubt an eine heilige, keusche Geistes-Freundschaft, bis es ihn übermannt und er fast zum Vergewaltiger wird. Da setzt er seinem Leben ein Ende.
Monique Cantré, REUTLINGER GENERAL-ANZEIGER, 04.04.2009